Sylt – Auf dem Parkplatz an einer der wohl berühmtesten Strandhütten der Republik bildet sich an diesem Vormittag im Juni eine lange Schlange. Geduldig warten Familien mit kleinen Kindern, Radfahrer und Paare in der Sonne darauf, einen Platz in der «Sansibar» zu ergattern. Am Eingang zum Weg durch die Dünen, der zum Lokal führt, steht eine Mitarbeiterin und regelt den Einlass.
Christina steht mit ihrem Mann und der kleinen Tochter relativ weit hinten in der Schlange. Es ist 11.15 Uhr – die «Sansibar» öffnet in einer dreiviertel Stunde. Eigentlich wollte die Hamburger Familie in den Urlaub fliegen, «aber das ging ja nicht», sagt Christina, die ihren Nachnamen nicht nennen will. Auf Sylt seien sie oft. Es sei so entspannt hier, gerade auch mit Kindern, findet sie. Für das Lokal mit dem großen Spielplatz in den Dünen stellt sie sich gerne an. «Das lohnt sich.»
Ein ganz anderes Bild bot sich auf Sylt in der Woche vor Ostern, als Touristen die Insel nicht betreten durften. Auf den weitläufigen Parkplätzen stehen nur vereinzelt Autos, die Straße die über die Insel führt, ist kaum befahren und auch die allgegenwärtigen Fahrradfahrer sind nur selten zu sehen. Wartezeit am Autozug? Fehlanzeige. Die Westerländer Fußgängerzone? Verwaist. Die Insel liegt in einer Art Dornröschenschlaf. Und zeigt ihre Schönheit. Die Dünen, die kilometerlangen weißen Sandstrände, das Meeresrauschen, die Wäldchen, wie in die Landschaft gekuschelte Reetdachhäuser – in der Stille wird noch deutlicher, wie schön die Insel ist und warum Sylt für viele Menschen ein Sehnsuchtsort ist.
«Sansibar»-Wirt Herbert Seckler fährt kurz vor 12.00 Uhr mit seinem schwarzen Mercedes den Dünenweg hoch zum Restaurant. Jeden Tag ist er hier, auch während der Corona-Zeit, trotz seiner 68 Jahre und obwohl er «Zielgruppe Nummer eins mit Sternchen» ist. Sein «Büro» hat er nach draußen auf die Terrasse verlegt. «Hier fühle ich mich relativ sicher», sagt er. Der Lockdown sei wirtschaftlich eine Katastrophe gewesen.
Die Saison habe er eigentlich schon abgeschrieben. Aber: «Wenn man den wirtschaftlichen Aspekt abzieht, war das eine tolle Zeit», sagt er. «Man sieht Dinge, die man sonst nicht sieht. Jetzt sieht man nur Menschen und Fahrräder und Fahrräder und Fahrräder.» Um 12.01 Uhr ist das Restaurant voll. Kellner mit Masken rotieren, um die Gäste zu bedienen, um die Zettel mit den Kontaktdaten einzusammeln.
Am ersten Tag der Öffnung für alle Gäste – dem Montag vor Himmelfahrt – zieht es die Reisenden sofort wieder auf die Insel. Es ist ein Wiederanfahren des Tourismus von Null auf Hundert. Bereits am frühen Morgen bilden sich kilometerlange Staus auf den Zufahrtsstraßen zur Autoverladestation in Niebüll. Viele Autofahrer sind die Nacht durchgefahren. Die Menschen die jetzt wieder auf die Insel dürfen, seien euphorisch, beobachtet Seckler. «Die sind sehr glücklich, dass sie wieder auf die Insel dürfen. Die Leute kommen und sehen das Meer. Das Glücksgefühl ist ganz stark.»
Wer jetzt Ende Juni über die Insel fährt oder geht, in die Gesichter der Menschen blickt, kann das Glücksgefühl erahnen. Durch die Westerländer Fußgängerzone schlendern entspannte Paare, setzen sich zu einem Kaffee oder Aperol in eines der wieder geöffneten Cafés. Am Strand liegen Sonnenhungrige, einige Wellenreiter paddeln durch die Brandung. Der Abstand, auf den überall mal mehr, mal weniger dezent hingewiesen wird, kann hier am Strand leicht eingehalten werden.
Entlang der sogenannten Whiskymeile in Kampen, dort wo «Pony Club» und «Gogärtchen» beheimatet sind, cruisen Luxuskarossen. Die Plätze der Außengastronomie sind gut gefüllt. Radfahrer und Fußgänger in Windjacken oder Strandoutfits schlendern entlang der Nobelboutiquen, machen sich auf die durchaus kostspieligen Röcke und Kleider im Schaufenster aufmerksam, schauen den Porsches, Ferraris und Bentleys hinterher. An der Autoverladestation in Westerland wartet ein junges Paar in einem alten VW-Bulli auf den Autozug gen Festland.
Warum ziehen diese 99 Quadratkilometer Land in der Nordsee seit Jahrzehnten so viele Menschen in den Bann? Kaufen sich Menschen ein Millionen Euro teures Häuschen in Kampen oder schlagen ihr Zelt auf dem Campingplatz auf? «Sylt kann man nicht erklären. Das spürt man oder nicht», sagt Seckler. Der gebürtige Schwabe ist vor 43 Jahren auf die Insel gekommen. Der Rest ist Geschichte.
Manche Gäste kämen vielleicht, weil sie Promis gucken wollen, sagt Seckler. Aber vor allem habe Sylt im Vergleich zu anderen Feriendestinationen einfach eine super Infrastruktur. «Hier oben kriegt jeder jedes. Egal, hier gibt es alles.» Man könne für drei Euro essen oder im Sternerestaurant.
Am Roten Kliff in Kampen fotografiert ein Mann seine Partnerin auf der Aussichtsplattform. Im Hintergrund der Strand, die Wellen, einzelne Strandkörbe. Heute sei ihr letzter Urlaubstag, erzählt das Paar, das in Schleswig-Holstein in der Nähe von Hamburg lebt. Neun Tage waren sie auf Sylt. «Wir haben es unendlich genossen, mal wieder rauszukommen», sagt sie. Alles sei ganz entspannt, sogar besser als gedacht. Anstrengend sei es manchmal nur, wenn man essen gehen wolle. Aber es sei ja Urlaub, da nehme man auch mal Wartezeit in Kauf.
Während sich die einen freuen, dass sich die Insel wieder füllt und die finanziellen Sorgen weniger werden, werden Stimmen bei Gästen und Insulanern lauter – nicht nur in den sozialen Medien – dass sich etwas ändern, die Taktung langsamer werden muss. «Uns ist schon seit längerer Zeit bewusst, dass unsere Gäste einen nachhaltigen Tourismus zu schätzen wissen», sagt Jutta Vielberg von der Sylt Marketing. Das Handeln sei darauf ausgerichtet – «und wir tun das nicht nur für unsere Gäste, sondern auch für die Insulaner und die Insel selbst».
Eine Insel, an deren Substanz die Naturgewalten nagen. Jedes Jahr steckt die schleswig-holsteinische Landesregierung viele Millionen Euro in den Erhalt der Substanz und in Küstenschutzmaßnahmen wie Sandvorspülungen. Und das Problem des Plastikmülls in den Meeren ist hier auf der Nordseeinsel sichtbarer als anderswo. Verschiedene Initiativen setzen sich für nachhaltigen Konsum, weniger Plastik und mehr Umweltschutz ein.
Sylt ist eben nicht nur Polo und Beachparty, Destination für den Familienurlaub und Radfahrer, sondern auch eine Region im ländlichen Raum mit Problemen wie anderswo – nur noch konzentrierter. Wohnraum ist knapp und teuer, viele Tausend Menschen pendeln daher täglich vom Festland über den Hindenburgdamm mit der Bahn zu ihrem Arbeitsplatz auf Sylt. Überfüllte und verspätete Züge bedeuten schon zu normalen Zeiten Stress. Jetzt, wo das Corona-Virus zirkuliert und die Züge auch mit Urlaubern immer voller werden, kommt nicht nur bei Pendlern noch die Sorge vor einer Ansteckung hinzu.
Sylt ohne Urlauber ist indes nicht vorstellbar. Die Insel lebt zu hundert Prozent vom Tourismus, wie nicht nur der Bürgermeister der Gemeinde Sylt, Nikolas Häckel, kürzlich betonte. Und dieser ist für viele Insulaner Fluch und Segen zugleich. Nach der Walfängerzeit war es der Fremdenverkehr, der Sylt Reichtum brachte.
Schon in den 1920er Jahren kamen Schriftsteller, Maler, Künstler nach Sylt, um sich von der Natur inspirieren zu lassen. Später kamen prominente Gäste wie Gunter Sachs und Brigitte Bardot, die am legendären Strandabschnitt «Buhne 16» in Kampen feierten und das Image der Insel der Schönen und Reichen mitbegründeten. Noch heute treffen sich an der «Buhne 16» jährlich zu Pfingsten Partylustige, um zu feiern. Auch dieses Jahr kamen – trotz des Verbots von Tagesgästen auf der Insel und Abstandsregeln – mehr Menschen zusammen, als eigentlich erlaubt waren. «Pfingsten war an einigen Stellen schon fragwürdig», sagt «Sansibar»-Wirt Seckler. Er ärgere sich, «dass die mein Leben aufs Spiel setzen».
Und auch wenn die Infektionszahlen in Schleswig-Holstein sehr niedrig sind, zeigen Ausbrüche wie der im Kreis Gütersloh, dass Corona noch nicht vorbei ist. «Man darf nicht fahrlässig werden», sagt Jutta Vielberg von der Sylt Marketing. Trotz Urlaub, trotz Sylt.
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(dpa)