„Warum ist es heute so still hier?“, ruft eine alte Frau die Straße hinauf. Ein alter Lada schlängelt sich gerade laut knatternd an den Schlaglöchern vorbei. Schulkinder in Uniform laufen brav eingereiht auf den Gehwegen. Ein paar Meter weiter bietet ein Straßenverkäufer Brot und Käse zu günstigen Preisen feil. Es ist morgens, 8 Uhr, in einem Viertel Havannas, in das sich nur selten Touristen verirren.
Reggaeton klingt wie Hip-Hop mit lateinamerikanischen Rhythmen
Die Frage der älteren Frau bleibt nicht unbeantwortet. Prompt schallt laute Musik die Straße hinab. Sie kommt von der Veranda eines Wohnhauses. Chartmusik in Endlosschleife – den ganzen Tag wird sie nun wie gewohnt die Straße beschallen und die Ohren der Bewohner beglücken. Dröhnende Bässe, Sprechgesang, schlüpfrige Texte: Reggaeton, das hört man in Kuba heute. Die Musikrichtung gefällt Jung und Alt. Salsa, das war einmal, hier in diesem Viertel läuft das, was auf der Karibikinsel Trend ist – und zum neuen Nationalstolz ihrer Einwohner.
Einer, der sich auskennt, wohnt nur wenige Straßenkreuzungen entfernt: Carlos arbeitet als Musikproduzent. Wie jeden Morgen beginnt sein Tag am Telefon. Konzertanfragen, Promotionsjobs, Organisation der Proben. Carlos ist für die Künstlerin, bei der unter Vertrag steht, so etwas wie das Mädchen für alles. Señorita Dayana feiert gerade ihren ersten großen Chartserfolg auf der Insel und ist angesagter denn je. Pro Woche gibt sie drei bis vier Konzerte. Von ihrer Gage bezahlt sie Carlos und ihre achtköpfige Band. Seit vier Jahren versucht die junge Künstlerin, die als Tänzerin ihre Karriere begann, auf Kuba bekannt zu werden. Nun hat sie es geschafft. Wie ihr Produzent Carlos reitet sie heute mit auf der Erfolgswelle, die ihre Musikrichtung in Kuba feiert.
Auch die Mode bestimmt der Reggaeton
Cubaton, das sich aus Cuba und Reggaeton zusammensetzt, heißt der Stil in Fachkreisen, der die Herzen der Kubaner erobert hat. Salsa, das ist zwar immer noch ihr großer Stolz, doch Cubaton gehört jetzt dazu. Mehrere Künstler wollen etwas abhaben von dem Kuchen, die Szene quillt geradezu über von meistens männliche Interpreten, die sich wie Rapper aus der Bronx geben und nicht nur musikalisch, sondern auch modisch die Jugend in Kuba prägen. Goldkette, Sneakers, enges Shirt, Sonnenbrille – so kleiden sich die jungen hippen Männer der Insel. Und natürlich auch Carlos. Weil er seit Jahren in Kubas Musikszene aktiv ist, kennt er sich aus. Er weiß, wo die angesagtesten Clubs liegen und verfügt über ein inselweites Netzwerk an Kontakten.
Reggaeton etablierte sich Ende der Neunziger auf Puerto Rico und ist eine Mischung aus Reggae, Hip-Hop, Merengue mit Einflüssen aus dem Salsa und der elektronischen Musik. Cubaton tanzt man nicht nur auf der Straße, sondern auch in Kubas Diskotheken. Zu den bekanntesten und beliebtesten Bands zählen Los 4. Die Musikkombo füllt Kubas Konzertsäle, jeder kennt ihre Songs in- und auswendig. Über die Grenzen hinaus sind sie jedoch nur unter Kennern bekannt. Gente de Zona, El Chacal oder Jacob Forever: Das sind die Namen derer, die es geschafft haben. Und das bemisst sich vor allem an einem: Man hört sie nicht nur von Havanna bis Santiago de Cuba, sondern auch in den USA.
Als Künstler kann man auf Kuba nicht reich werden
Wer es schafft mit seinen Liedern außerhalb Kubas berühmt zu werden, dem stehen selige Zeiten bevor. So zumindest erzählt man es sich hier. So lang der Durchbruch noch nicht erreicht ist, müssen die Künstler mit niedrigen Gagen des sozialistischen Landes leben. Mehr als vier Euro Eintritt kann sich kaum ein Kubaner für ein Konzert leisten. So ist selbst dann nicht viel Geld zu machen, wenn man Charterfolge feiert. „Dafür lebt man ein angenehmes Leben“, sagt Carlos. Angenehmer als diejenigen, die sich mit staatlichen Jobs über Wasser halten und ihr Leben mit Monatslöhnen um die 20 bis 30 Euro finanzieren müssen. Carlos bekommt pro Monat das Zehnfache, er wird pro Konzert bezahlt. Fallen die Veranstaltungen ins Wasser, bekommt niemand eine Gage. Das kommentiert Carlos nüchtern auf diese zynische kubanische Art: „Zum Glück regnet es hier so selten.“
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