Berlin – Die große Schwester war über Wochen weg, mit dem Freund, per Anhalter und Interrail in Südfrankreich. Oder war es Spanien oder Italien? So genau wusste es die Familie nicht.
«Ruft mal an», gab die Mutter der Schwester mit. Das passierte. Aber nur alle paar Wochen mal. Telefonieren war teuer. Dass am Strand von Nizza plötzlich das ganze Geld weg war, dass sie bei schmierigen Typen im Auto mitgefahren waren, das mussten eh nicht gleich alle wissen.
Solche Geschichten kursieren in vielen Familien. Mit dem
Interrail-Bahnticket und dem Daumen quer durch Europa reisen: Beides war in den 80er und 90er Jahren ein Massenphänomen. Fernreisen waren noch etwas Besonderes, noch nicht das Standard-Programm im Jahr nach dem Abitur wie heute. Es war die letzte Epoche der Unerreichbarkeit, noch ohne Smartphones.
Wie haben es die Eltern damals ausgehalten ohne tägliche Whatsapp-Nachrichten? Wie ist man um die Welt gereist ohne Internet überall? Für Bahnreisen brauchte es damals noch das Kursbuch, für Pauschalreisen den Katalog und das Reisebüro.
Tramper sind heute so gut wie verschwunden. Woran das liegt? An Mitfahrzentralen, Billigbussen und wahrscheinlich auch an der berechtigten Angst, bei einem Fremden ins Auto zu steigen. Bilder von früher strahlen eine große Sorglosigkeit aus. In Pulks standen die Anhalter am Berliner DDR-Grenzübergang Dreilinden, mit selbstgemalten Pappschildern. «München» oder «Stuttgart» stand darauf, es ging erstmal Richtung Süden.
Ein paar Tramper-Gesetze: VW-Busse, alte Mercedesse und Enten hielten fast immer. Die Autos mit «Atomkraft, Nein danke»-Aufkleber sowieso. Wer als Pärchen unterwegs war, schickte die Frau an die Straße. Da waren die Chancen besser.
Die Methode «Daumen raus» war im Westen wie im Osten verbreitet. Reisen konnte man in der DDR nur begrenzt, auch in Richtung Osten. Besonders Verwegene schafften es, illegal mit einem Transitvisum durch die riesige Sowjetunion zu reisen, nachzulesen im Buch «Unerkannt durch Freundesland». Autorin Cornelia Klauß schreibt: «Im Gepäck hatten wir ein paar bescheidene Sprachkenntnisse, wobei wir interessanterweise nur Englisch benötigten, weil Russisch selbst in den sprachverwandten Ländern verpönt war, sowie ein gewisses Grundvertrauen in den Menschen an sich.»
Im Jahr 1989 verbrachten die meisten in der DDR ihren Urlaub an der Ostsee, wo eine gewaltige Marienkäferplage herrschte. Auch Osteuropa war nach wie vor beliebt. Es war der historische Wendesommer: Tausende nutzten ihren Ungarn-Urlaub zur Flucht und kehrten nach den Ferien nicht mehr zurück. In den 90er Jahren kam die große Reisefreiheit, im Kino zu sehen in «Go Trabi Go». Ein Familienvater (Wolfgang Stumph) fährt darin mit Trabant «Schorsch» auf den Spuren Goethes von Bitterfeld nach Neapel.
Im April 1990 hob die erste Maschine der DDR-Fluggesellschaft Interflug Richtung Mallorca ab. Dass sich dort am «Ballermann» Horden von Partytouristen niederließen, dürfte ein Gemeinschaftswerk von Ost und West gewesen sein.
Helmut Kohl, Bundeskanzler von 1982 bis 1998, urlaubte gerne am Wolfgangsee. Das war typisch alte BRD. Bis in die 80er Jahre war Österreich das beliebteste Auslandsreiseziel, abgelöst von Italien und Spanien, wie die Historikerin Sina Fabian (Humboldt-Universität Berlin) erklärt, die über westdeutsche Pauschalurlauber in Spanien geforscht hat.
Eine Erkenntnis: Die Bundesbürger wurden experimentierfreudiger. Ende der 80er Jahre wollte nur noch ein Viertel der Pauschalurlauber eine Vollpension haben, zu Beginn der 70er Jahre war es noch die Hälfte. Kochen in der eigenen Ferienwohnung wurde beliebter. Zucchini, Knoblauch und Olivenöl lernten die Deutschen im Urlaub kennen, bevor es zum Alltag gehörte.
Auf einer Interrail-Tour ernährten sich die Leute von Baguette, Käse und billigem Rotwein. Das Ticket kam 1972 auf den Markt, damals kostete es 235 Mark. Für viele Jugendliche öffnete sich ein Tor zur Welt: London, Paris, Madrid und Rom waren auf einmal gut erreichbar, so wie heute mit Billigflügen. Anfang der 90er wurden weit über 400.000 Tickets gekauft, längst nicht so viel wie in diesem Jahrzehnt. Interrail war auch ein Schritt zum Erwachsenwerden: Fuhr man noch mit den Eltern nach Amrum oder war man doch schon alt genug für die Kifferläden in Amsterdam?
Der Schriftsteller Max Goldt warb einmal für regionales Reisen. «Lediglich der Jugend wird man das Privileg einräumen, einmal im Leben via Interrail das europäische Eisenbahnnetz mit Keksen vollzukrümeln.» Dazu dürfte die Jugend reichlich Gelegenheit haben. Die EU-Kommission verschenkt dieses Jahr mindestens 20.000 Interrail-Tickets an EU-Bürger, die 18 sind.
(dpa)