Große Ausstellung rund ums «Flanieren» in Bonn zu sehen

Bonn – Hatten die Leute früher mehr Zeit? Die Gemälde der Impressionisten scheinen darauf hinzudeuten. Überall schlendernde Dandys, Zeitung lesende Herren im Park, elegante Damen mit Hut, die in die Schaufensterauslage schauen.

Das
Kunstmuseum Bonn zeigt solche Gemälde ab Donnerstag (20. September) in großer Zahl: 160 Werke von 65 Künstlern wie Vincent van Gogh, Camille Pissarro, August Macke und Ernst Ludwig Kirchner. Aber es geht nicht nur um die Kunst, sondern auch um das Flanieren und Spazieren an sich.

Hatten die Leute also früher mehr Zeit? Die Antwort ist wohl: Nur die Reichen, und hier vor allem die Adligen. Denn die mussten nicht arbeiten, weil andere es für sie taten. Zur Schau gestellte Langeweile war sozusagen das ultimative Statussymbol. Um das zu unterstreichen, führten manche Aristokraten sogar eine Schildkröte an der Leine mit sich.

Historisch gesehen sei der Flaneur an die Entwicklung der Metropolen im 19. Jahrhundert geknüpft, sagt Stephan Berg, Direktor des Kunstmuseums Bonn. In den verwinkelten Städten des Mittelalters gab es gar keinen Platz zum Flanieren, da musste man sich zwischen Fuhrwerken und frei laufenden Schweinen durchquetschen. Zum gemütlichen Schlendern benötigte man die großen Boulevards mit ihren Bürgersteigen. Flanier-Stadt Nummer 1 war natürlich Paris. Danach sei dann aber um 1900 schon Berlin gekommen, sagt Berg.

Das Spazierengehen hat auch etwas Künstlerisches. Denn beim Schauen setzt man sich seine eigene subjektive Welt zusammen. Als Kind wird man von den Eltern oft mit zum Spazieren genommen und findet es langweilig. Die Eltern sagen: «Guck mal, die schöne Landschaft!» Doch das Kind hat kein Auge für die Aussicht. Dafür sieht es ganz andere Dinge, für die die Erwachsenen blind sind. Zum Beispiel die leere Coladose, mit der man Fußball spielen kann. «Man sieht nur, was man zu sehen gelernt hat», sagt
Prof. Martin Schmitz, der unter anderem auf Spaziergangs-Wissenschaft spezialisiert ist.

Promenadologe Schmitz ist davon überzeugt, dass die Menschen die Welt heute viel abstrakter wahrnehmen als früher. «Wenn man aus dem Haus geht und einen bestimmten Weg zurücklegt, kann man hinterher nur Sequenzen davon wiedergeben. Zum Beispiel: Brücke, Kirche, Fußballplatz. Diese Sequenzen werden mit zunehmender Geschwindigkeit immer größer, und damit wird das Bild der Landschaft abstrakter. Man nimmt nur noch einen grünen Streifen wahr. Der Autofahrer sagt dann zum Beispiel: «Ach, Burgund ist auch nicht mehr das, was es mal war.» Aber das liegt daran, dass er’s gar nicht richtig gesehen hat.»

In den letzten Jahren beobachten Wissenschaftler ein neu erwachtes Interesse am Spazierengehen, vielleicht auch als Gegenbewegung gegen eine immer schneller werdende Welt. Dabei streift der Flaneur heute vielleicht nicht mehr über die Pariser Boulevards, sondern scrollt in den Weiten des Internets. «Man kann sagen, dass das eine verwandte Form der Welterschließung ist, weil man dabei immer auch auf etwas Unerwartetes stößt», meint Stephan Berg.

Schmitz wiederum betont gerade den Gegensatz zum Virtuellen: «Ich finde es wirklich unglaublich, wie viele Organisationen, Museen, Gruppen, Künstler sich wieder mit dem Spazierengehen beschäftigen.»


(dpa)

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