New York – Rund eine halbe Stunde verbringt der durchschnittliche New York-Tourist in Staten Island: Runter von der großen gelben Fähre, die einen gerade an der Freiheitsstatue vorbei geschippert hat, einmal quer durch den Hafen, und wieder rauf auf die nächste Fähre zurück nach Manhattan.
Rund 23 Millionen Menschen fahren jedes Jahr kostenlos und rund um die Uhr mit der
«Staten Island Ferry», viele von ihnen Touristen – aber den Hafen verlassen nur die wenigsten. Und auch viele New Yorker waren noch nie in dem südlichsten der fünf Stadtviertel, das auf einer eigenen Insel rund 500.000 Menschen beherbergt.
Als «fifth and forgotten» bezeichnen sich die Einwohner selbst, das fünfte, vergessene Rad am Wagen der Millionenmetropole. «Ständig schmeiße ich Partys in meinem Garten und lade alle meine Freunde aus Manhattan ein», erzählt Paul Coulbourne, der in einem zu Fuß von der Fähre erreichbaren Haus lebt. «Einmal hatte ich sogar eine achtköpfige Band, die zu den besten der Stadt gehört – aber meine Freunde kommen einfach nicht rüber. Ich kann auch keine Frau hier herbringen, die wollen alle nicht nach Staten Island. Ich nehme das persönlich, das beleidigt mich.» Sein Freund Dean stimmt zu. «Ich habe viele Freunde verloren, als ich nach Staten Island gezogen bin.»
Aber seit die Wohnpreise in den anderen Stadtteilen teils astronomisch gestiegen sind, schauen immer mehr Menschen nach Staten Island. Die «New York Times» schrieb von einem «Wendepunkt» und das Stadtmagazin «Time Out» deklarierte die Insel als «Ort, wo man jetzt sein muss». Die einst vor allem an der Nordküste hohe Kriminalitätsrate ist stark gesunken.
«Urby», die erste hippe Wohnanlage für junge Menschen, mit Pool, gutem Kaffee und Yoga mit Blick auf Manhattan, steht schon. Eine riesiges Einkaufszentrum direkt am Fähranleger soll im Herbst eröffnet werden. Das mit viel Fanfare angekündigte größte Riesenrad der Welt verzögert sich nach Rechtsstreits und Kostenexplosion allerdings erstmal.
«Die Nordküste von Staten Island kommt», sagt eine Sprecherin der Maklerfirma Cassandra Properties. «Viel ist schon gebaut worden, viel Geld ist schon investiert worden und wenn wir erstmal die Touristen reinholen können, dann wird sich hier alles verändern. Die Hausbesitzer haben die Mieten schon extrem angehoben, denn sie denken, dass es jetzt passieren wird, und die Investoren kommen.»
Vor allem die Anbindung hat die Entwicklung von Staten Island bislang verhindert. Die Fahrt mit der Fähre ist zwar kostenlos und bietet Panorama-Blicke auf die Skyline von Manhattan, dauert aber auch eine halbe Stunde. Auf der Insel selbst gibt es zwar Busse und eine Bahnverbindung – aber ohne Auto geht trotzdem wenig, ganz anders als im Rest der Stadt.
Alle Tunnel-Pläne erwiesen sich als zu teuer. Brücken gibt es nur in den Nachbarbundesstaat New Jersey und in das New Yorker Stadtviertel Brooklyn. Und die Verbindung dorthin führt zwar über die architektonisch schöne Verrazano-Narrows-Brücke, kostet aber stolze 17 Dollar (etwa 14 Euro)
Mautgebühr. «Das ist völlig wahnsinnig», sagte Nicole Malliotakis, Republikanerin im Abgeordnetenhaus des Bundesstaats New York, jüngst der «New York Times». «Meine Kollegen fragen: «Was ist denn da auf Staten Island? Verschenken sie da auf der Straße Gold? Ist das ein Traumland?»
Staten Island hat Strände und viel Grün.
«Freshkills», die einst größte Müllhalde der Welt, wird gerade zum größten Park der Stadt umgebaut. Die Hügel der Insel – auch der höchste Punkt der Metropole liegt hier – erinnern zum Teil an San Francisco und bieten Panoramablicke über die Skyline von Manhattan. Auch Sehenswürdigkeiten gibt es, etwa das zum Museum umgebaute Seefahrer-Altersheim «Snug Harbor», das Alice-Austen-Haus mit Fotografie-Ausstellungen sowie einen Zoo und ein Baseball-Stadion. Und die legendäre Hip-Hop-Gruppe Wu Tang Clan stammt von hier.
Frühe Einwanderer nach Staten Island kamen aus Deutschland, es gab zahlreiche Bier-Brauereien, von denen einige überlebt haben. Italienische Neuankömmlinge sorgten danach für bis heute beliebte Pizza- und Eisläden, heutzutage bieten Einwanderer unter anderem aus Sri Lanka und Mexiko eine Vielfalt an Restaurants.
Aber Staten Island ist und bleibt anders als der Rest von New York. Die meisten Einwohner haben Autos und Eigenheime – während die Menschen in den anderen vier Stadtteilen größtenteils zur Miete wohnen und U-Bahn fahren. Vier Stadtteile stimmten 2016 mit großer Mehrheit für die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, einzig Staten Island wählte Donald Trump.
Und viele Menschen aus Staten Island wollten mit dem Rest der Stadt schlicht nichts zu tun haben, sagt Hausbesitzer Coulbourne. «Es gibt Menschen, die das Viertel nie verlassen. Sie haben Angst vor dem Rest der Stadt. Schon als ich vor 30 Jahren hergezogen bin, haben die Menschen hier gesagt: »Wie gut, dass es keinen Zug nach Brooklyn gibt, sonst kämen die falschen Leute.« Sie wollen nicht, dass das Viertel sich verändert.»
Jetzt aber lasse die Veränderung sich nicht mehr aufhalten, davon ist Coulbourne überzeugt. «Und ganz ehrlich: Ich finde das großartig. Ich mag die Vielfalt. Ich mag es, dass viele gute Menschen von überall herkommen, denen es wichtig ist, wo sie leben. Ich hoffe, es wird neue Restaurants geben. Es muss ja nicht übertrieben sein – ich will hier keinen Trump Tower. Ich will nur abends weggehen können, ohne dafür nach Brooklyn fahren zu müssen.»
(dpa)