Prag – Rettungskräfte fahren mit dem Schlauchboot durch die überfluteten Straßen. Im Prager Stadtteil Karlin steht das Wasser im August 2002 drei Meter hoch. Die Moldau hat alles
überschwemmt. Heute, 15 Jahre später, ist Karlin ein angesagtes Viertel.
Die Feuerwehr rettet bei der Flut ältere Menschen und Familien mit Kindern, die sich nicht selbst in Sicherheit gebracht hatten. Vier Gebäude stürzen ein, ein Dutzend weitere müssen abgerissen werden. Es dauert einen Monat, bis die Einwohner in ihren Stadtteil zurückkehren können.
Die Katastrophe begann am 13. August 2002, als die Flutwelle auf der Moldau Prag erreichte. Karlin liegt am Ufer und war der mit Abstand am stärksten betroffene Stadtteil. Es gab Ängste, er könnte angesichts der Zerstörungen zu einer Geisterstadt werden.
Heute, 15 Jahre später, ist Karlin zu einem der angesagtesten Viertel der Metropole geworden. In dem früheren Randbezirk tummeln sich Hipster, Jungunternehmer und Geschäftsleute genauso wie junge Familien mit Kindern. Es gibt Straßencafés, Yoga-Studios, Konzertsäle und Ausstellungsräume.
David Semerad, Chef des IT-Start-ups STRV, hat seine Büros vor einiger Zeit vom Zentrum nach Karlin verlegt. «Die Lage war sehr zentral, aber das Umfeld war sehr touristisch und entwickelte sich nicht weiter», sagt er. In Karlin sei das anders. Praktisch jeden Monat öffne ein neues trendiges Bio- oder Superfood-Restaurant. Und weil so viele Technologie-Firmen einziehen, werde Karlin immer mehr zum tschechischen Silicon Valley. «Man spürt förmlich die Energie der vielen supermotivierten Menschen.»
Der 31-Jährige und seine vier Mitgründer wohnen inzwischen auch selbst in dem früheren Industrieviertel, ebenso wie viele der 150 Mitarbeiter. Angst vor einer erneuten Flutkatastrophe haben sie nicht. «In der Technologie-Branche ist das Tempo so schnell, dass niemand darüber spricht, was letzte Woche geschehen ist – und schon gar nicht, was im Jahr 2002 war», sagt Semerad, dessen Firma Smartphone-Apps nach Kundenwunsch entwickelt.
Tatsächlich scheint die Stadtverwaltung ihre Arbeit gemacht zu haben: Am Ufer der Moldau wurde ein Deich errichtet, den im Ernstfall kilometerlange mobile Schutzwände ergänzen. Pumpen sollen das Wasser zudem aus der Kanalisation halten – auf diesem Weg war es 2002 in den tiefgelegenen Stadtteil, der auf Deutsch Karolinenthal heißt, geströmt. Von dort bahnte es sich seinen Weg weiter durch Straßen sowie in die U-Bahnstation Krizikova und von dort aus in viele weitere Haltestellen.
Die Hochwasserschäden in Prag wurden mit rund 2,8 Milliarden Euro beziffert – gut ein Zehntel davon entfiel allein auf Karlin. Aus EU-Kassen flossen Fördermittel für den damaligen Beitrittskandidaten. Und Immobilienentwickler entdeckten den Charme und die Chancen des Industriestadtteils, in dem im 19. Jahrhundert Dampfschiffe und elektrische Straßenbahnen gebaut wurden. Alte Fabriken wurden entkernt und zu Gewerbekomplexen umgebaut.
Die Vorstadt entstand erst ab 1817 auf einem geometrischen Grundriss, deswegen sind die Straßen hier weiter und offener als in der mittelalterlichen Prager Altstadt. Wie sich Tradition und Moderne miteinander verbinden lassen, zeigt zum Beispiel das neue Bürohaus «
Keystone» des Schweizer Architektenbüros EM2N. Mit seinen polygonalen Flächen nimmt es Bezug auf den tschechischen Kubismus des frühen 20. Jahrhunderts mit seinen scharfen Kanten.
Nicht alle sahen die Veränderungen in Karlin nur positiv: Denkmalschützer warnten vor einem zu radikalen Umbau – oft blieben nur die Fassaden der Fabriken stehen. Die ursprünglichen Einwohner, meist einfache Arbeiter, fühlten sich von zahlungskräftigeren Schichten verdrängt.
(dpa)